Aus Die Lesewelt Zeitschrift des Deutschen Bücher Bundes, DBB, Düsseldorf 3.Jahrgang Heft 8 Mai 1952, S.244-252
ADOLF VON GROLMAN
Was ist Poetik?
Zur Einleitung:
In einer Reihe von Einzelaufsätzen werden in dieser und den kommenden
Nummern der „Lesewelt“ Fragen der Poetik, d. h. der Lehre von den
Dichtformen behandelt werden — nicht alle und auch keineswegs als ein
Lehrbuch. Weil aber auf dem Gebiet der Poetik nur allzu viel Willkür
und Unklarheit herrschen, schien es angezeigt, dem Leser und Liebhaber
von Büchern hier einiges zu bieten.
P o e t i k ist die mehr oder weniger gern berücksichtigte Lehre von
den Dichtformen. Das hört sich recht einfach an, ist aber — schaut man
näher zu — so ziemlich das Heikelste, an das man rühren kann. Viele
Menschen freuen sich zwar an „Formen“, manche wollen sie abstrahiert,
andere bevorzugen sie in sachlicher Tatsächlichkeit; man kann (ohne
einseitig zu werden) sich an Formen der Kunstäußerung, insbesondere
also in der Dichtkunst, mehr freuen als am „Inhalt“ des Gebotenen oder
gar „an der Moral von der Geschicht’“. Aber sehr vielen Personen sind
Formen ein Ärgernis; sie wollen Ungebundenheit im Reiche der
Phantasiekünste, sie wollen das Außerordentliche, das Ungewöhnliche, ja
— das Verzerrte. Kommt nun einer und spricht von Formen, dann sehen sie
in ihm einen Pedanten, einen griesgrämigen Plagegeist, welcher den
„Dichtern“ Gesetze vorschreibt, Ohne selbst „ein Dichter“ zu sein . . .
und was es dergleichen Halbklugheiten mehr gibt. Nun ist aber die
Poetik eine Wissenschaft, und zwar eine uralte und recht strenge
„Wissenschaft“. Sie ist also nicht fürs „Volk“ der Leser, sondern für
die ganz besonders dort Hervorgehobenen - . - und d a s darf doch nicht
sein, wird eingewendet. Wieso kommt eine strenge Wissenschaft zu u n 5?
Wir wollen sie ja gar nicht! Wir wollen etwas lesen, in freier Zeit,
zur Ablenkung, wir wollen erhoben, erregt, zerstreut, gesammelt
werden!!! . . . so heißt es da und dort. Man sieht: soviel Personen, soviel widersprechende Ansichten. Was aber
dennoch bleibt, man nehme es wie man wolle, ist die Tatsache, daß die
geistigen Äußerungen der Dichter und Denker jenseits der Sprache immer
und je Formen h ab e n, auch wenn man es nicht sehen und nicht hören
will. Der Geist (und ebenso der Ungeist, ihn nachäffend) nimmt Gestalt
an. Das gilt ein für allemal für alle Literatur. „Litterae“ — das sind
„die Buchstaben“, und wer lesen gelernt hat (so sollte man meinen),
würde sich auch darum kümmern, was aus den Buchstaben wird. Moliére,
seinen „Bürger als Edelmann“ schreibend, läßt es sich nicht entgehen,
diesen reichen Emporkömmling, der
Fecht-, Tanz- und anderen Unterricht nimmt, mit größtem Erstaunen sich
bei seinem Sprachlehrer verwundern zu lassen, daß er seit Gedenken
stets „Prosa« gesprochen habe. Gewiß keine Poesie, aber immerhin Prosa.
Das ist ein bissiger Hieb Molières, denn ganz so, wie es in dem
Kinderaufsatz heißt, „Viele Tiere haben einen Instinkt, aber nur wenige
wissen damit etwas anzufangen«. . . - ganz ebenso laufen zahllose
Leute herum, die mit ihrer Prosa noch weniger beginnen können als mit
der echten und der angeblichen Poesie, welche man in Buchgestalt auch
noch gegen Bargeld kaufen soll. Es ist also daran, daß die Poetik versucht, Erscheinungen des geistigen
Lebens begrifflich zu bestimmen, d. h. zu »definieren“: „finis“ ist die
Grenze, »definieren“ heißt Grenzbestimmen, und dabei gibt es
erfahrungsgemäß Streit; so in der Poetik, denn der Schund will sich als
künstlerisches Werk gebärden und als solcher will er verkauft werden.
Dagegen wehrt sich der Kenner und wehrt sich der Leser, •ein jeder von
seinem Gesichtspunkt her. Also werden Unterschiede und Titelanmaßungen
an der Tagesordnung sein — jedoch: darüber stehen die Gesetze des
menschlichen Geistes, der geistigen Schaffensleistung und der
Ordnungen, aus welchen die Weisheit und die Schönheit kommen werden.
Gottfried Keller machte einmal eine schöne Bemerkung zur Poetik
überhaupt, in seinen „Mißbrauchten Liebesbriefen“, weiche man im
zweiten Teil der »Leute von Seldwyla“ findet. Dort kommen Freunde der
Dichtung zusammen »und führten ein gemächliches Gespräch über allerlei
Schreiberei, sprachen von Cervantes, von Rabelais, Sterne und Jean
Paul, sowie von Goethe und Tieck, und priesen den Reiz, welchen das
Verfolgen der Kompositionsgeheimnisse und des Stils gewähre, ohne daß
die Freude an dem Vorgetragenen selbst beeinträchtigt werde. Sie
stellten einläßliche Vergleichungen an und suchten den roten Faden, der
durch all dergleichen hindurchgehe . . .“ D a s ist die Haltung, welche
die Wissenschaft der Poetik ebenso einnehmen sollte wie jene, die sich
darüber unterhalten. ‘Echte Poetik freut sich an der Klarstellung und
an der wechselseitigen Erhellung der Dichtformen und ihrer seelischen
und schriftstellerischen Möglichkeiten. Dies tut sie und läßt dem guten
Geschmack die nötige Bewegungsfreiheit. Fehlt er, was bisweilen
vorkommt, so regt sie zum Geschmackvollen an. Sie weiß, daß eine jede
Welt ihre eigenen Freuden und Gefühle h a t, und sie hält es für
möglich, daß oberhalb der ablaufenden Zeit die F o r m dichterischen
Ausdrucks stärker ist als rechthaberische Vernunft, welche dem
Künstlertum kommandieren möchte, ohne dazu die Kraft zu haben. Im
folgenden soll über dies und das der Dichtform gesprochen werden. Man
wird bald sehen, welche tiefe, gedankliche Hintergründe und Blicke ins
Leben sich auftun, sowie man den Vordergrund der formalen
Alltäglichkeit verläßt und sich den Weiten der ewigen Formen in aller
Welt bedächtig nähert.
Der Roman
Wesen und Sinn des Romans liegt in seiner eigenen inneren Be wegtheit,
welche sich vorn Mensch auf den Menschen überträgt, ohne daß dazu eine
andere Romanhandlung nötig wäre, als nur der unbestochene Blick des
Künstlers, der auf allen Dingen unserer Lebenslandschaft ruht und deren
stille Wechselbezüge ausspricht.
Adolf von
Grolman „Ferien“ ein Roman, 1946. S. 64.
„Roman“ ist eine spröde Vokabel welche zur Wesensbestimmung dessen, was
damit bezeichnet wird, nichts aussagt. Im mittelalterlichen Frankreich
tritt sie zuerst auf, und zwar als Bezeichnung für Schriftgut in Prosa,
das nicht lateinisch abgefaßt ist, sondern in der „lingua romana“. Es
handelt sich dabei um allerlei Übersetztes und dann auch um erzählende
Literatur, um Chroniken, Berichte; dabei wird nicht unterschieden, ob
diese Gebilde in Versen abgefaßt sind oder in Prosa. Aber im 13
Jahrhundert meint man schon ausschließlich Erzählgut erdichteten und
phantasievollen Inhalts, über welches sich sehr bald Streit erheben
wird. Nach Deutschland kommt die Bezeichnung erst im 17. Jahrhundert,
vorher ist sie nicht aus Frankreich übernommen worden. Das klingt
zunächst einfach und selbstverständlich, aber das bleibt nicht so. Denn
es gibt zwei Grenzfälle, welche nun zu interessieren beginnen. Der e i
n e Grenzfall ist des Romans Abgrenzung gegen das Epos, das Versepos
also, darinnen die Kunst des Aufbaues und des Verses den Inhalt des
Werks künstlerisch anspruchsvoller darstellt, auch wirkungsvoller.
Zuzeiten hat man die „Prosaepopoe“, also den „Roman“ im gehobenen
Stande (und nicht das Lesefutter in dicken Bänden!) als weniger gehoben
angesehen. Das Epos kann große Ansprüche erheben, es ist die älteste
Dichtung der Weltliteratur, hat sehr raffinierte Formen in Vers und
Reim, in Ballung des Inhalts und Erweiterung des Blicks auf die Welt,
die sich im Epos spiegelt . . . Der a n d e r e Grenz fall ist die
Abgrenzung gegenüber der dramatischen Leistung für die Bühne. Viele
Romane enthalten lange und effektvolle Gespräche, man könnte sie
„dramatisieren“ (für die Bühne sowohl wie neuerdings auch für den
Film), und man tat oder tut dies auch. ‘Goethe hat einmal gelegentlich
(im siebenten Kapitel des fünften Buchs von „Wilhelm Meisters
Lehrjahren“) sich mit der Abgrenzung des Romans gegen das Drama
geäußert im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und
Handlung. Der Unterschied beider Dichtungsarten liegt nicht nur in der
äußeren Form, nicht darin, daß die Personen im einen sprechen und daß
in dem anderen gewöhnlich von ihnen er zählt wird; leider viele Dramen
sind nur dialogisiert Romane, und es wäre nicht unmöglich, ein Drama in
Briefen zu schreiben. Im Roman sollen vorzüglich Begebenheiten und
Gesinnungen vorgestellt werden; im Drama Charaktere und Taten. Der
Roman muß langsam gehen . . .‚ das Drama soll eilen. Der Romanheld muß
leidend, wenigstens nicht in hohem Grade wirkend sein; von dem
dramatischen verlangt man Wirkung und Tat . . .“
Die Poetik, den Roman betreffend, sieht sich nun vor allerlei
Verwicklung: denn leicht, sehr leicht gelangt der Roman, je „moderner“
er wird, an die Grenzen aller Poesie überhaupt, er wandelt sich in
Bericht, in Dokument, in scheinbare Chronik, ins Sittenbild und in
Gröberes, vom reinen Unterhaltungsstoff und dem Lesefutter ganz zu
schweigen. Aber das Epos hat Rang, es wurde einst vorgetragen, ja
vorgesungen, daher seine Vers- und Reimkunst, seine Einteilung in
Strophen aller Art und Verwandtes. Das Drama stellt Handlung und
Handelnde dar und vor und kann sich seelische und be schreibende
Feinheiten des Romans nicht gestatten. Handelnde — gewiß: denn immer
haben Epos, Roman und Drama einen oder mehrere „Helden“, das heißt hier
Hauptpersonen, die durchaus nicht immer „Helden“ im Sinne menschlicher
Höhe zu sein brauchen. Trifft das aber so ganz rein zu? Durchaus nicht.
Homer, der größten Epiker einer, schildert ausdrücklich in det „Ilias“
„den Zorn des Achilles“ und nicht Achilles selbst, also eine rein
psychologische Angelegenheit, die immer wieder von den Lesern nicht
genü gend eingeschätzt wird und Vergil in seiner „Aeneis“ singt nicht
von dem Held Aeneas, sondern von dessen „pietas“, d. h. von seiner
Ehrfurcht allen echten Werten gegenüber, denn „pietas“ ist weder
„Frömmigkeit“ noch „Pietät“. Zugegeben: aber im Roman ist der Held eine Individualität, ein
einzelner Charakter, dessen Werden, Sein und Vergehen Inhalt des Romans
sein wird und diesen Träger vieler Eigenschaften umgibt die Umwelt. Man
erwäge: es gilt die Individualität mitten im Kollektiv zu zeigen,
glaubhaft zu machen, wirken, leiden und streben zu 1 a s s e n, wobei
sich, wie nachher unten zu zeigen sein wird, die bestürzendsten
Möglichkeiten der Technik des Romans, der Darstellungskunst und des
Raffinements ergeben. Völlig anders wird die ganze Lage, wenn nun als
„Held“ besagte „Gesellschaft“ so ganz im all gemeinen in Romanen
behandelt wird . . . Darstellungen von Massen und Mengen, von Sitten,
Zeitläuften, von verklungenem Lärm und vielem menschlichem Irregang,
ganz zu schweigen von Tendenzen aller Art.
Noch nicht genug: das Epos ist zeitentrückt, spiegelt große Bewegungen
und läßt große Gefühle gelten; Held und Gemeinschaft sind dort meist
identisch. Der Held des Epos vertritt seine Epoche; aber der Held des
Romans steht nicht vor solch großem und schicksalhaftem Rahmen. Auf i h
n s e 1 b e r kommt es dem Roman an, und deshalb werden Anfang und
Schluß beidemal wichtig. Das Drama hat seinen Beginn und seinen Schluß
im Bühnenabend, sonst ist es nur ein „Lesedrama“ . . . Das Epos lebt
aus seiner nur schwach zeitbedingten, dafür aber weltüberlegenen Weite,
es steht jenseits von Beginn und Ende — der Roman aber muß sich selbst
Grenzen setzen, um sich nicht
ins Uferlose zu verlieren. Je präziser der Roman seine äußeren und
inneren Grenzen samt Beginn und Ende seiner Handlung erkennt, um so
aufrichtiger wird er, um so sicherer kommt er an der gefährlichen
Klippe vorbei, ein Sammelbecken zu werden, ein Strickstrumpf oder eine
Art von Enzyklopädie, welcher kein Mensch glaubt, je dicker auch
vielleicht der Druckband sich zeigt.
Die unterhaltende Geschichte, der „Bestseller“, das dicke Lesefutter,
der Wälzer voller Grafen, Abenteurer und Blockhütten ist k e i n
„Roman“, auch wenn er sich so nennt oder so genannt wird. Ebensowenig
ist es der Zeitungsroman unter dem‘ Strich, der in Portionen alltäglich
abgedruckt wird. Es hat große Dichter gegeben, welche in der Tatsache
der täglichen Fortsetzung ein ganz besonderes Mittel fanden, das Bild
der Welt oberhalb der Stückelung leuchten zu lassen; solche Leistungen
aber ind selten, denn sie erfordern ein gewaltiges Maß von bauender
Kraft. Je umfangreicher ein Roman wird, um so verdächtiger nähert er
sich seiner viel kritisierten Sphäre, j e n e r schon 1631 schrieb
Charles Sorel seinen „ Antiroman“ —‚ er und andere wendeten sich gegen
die oberflächlichen Romanverschlinger, weiche nach Abenteuer und Liebe
ausschauten und im Lesen ihre Phantasie um jeden Preis entzünden
wollten; 1670 wurde ebenfalls in Frankreich der Roman ganz offiziell
verteidigt, von Huet, einem Erzbischof; es handelt sich, um es mit
einem Worte zu sagen, um das „Niveau“! Heute, beinahe 300 Jahre später,
handelt es sich, spricht man von der Poetik des Romans, um ganz das Näm
liche: die Kunst des Schriftstellers, des Romandichters muß Niveau
haben, aber die Mehrzahl der Hersteller, Verkäufer und Leser der
„Romane“ will Geschäft und Sensation: das ließt einander aus. W e ii es
aber das tut, stehen wir vor erschreckend vielen Möglichkeiten des
Romanes: diese ver suchen alle, das Problem des zu erreichenden oder
des fehlenden Niveaus auszugleichen, und in diesem Augenblick bekommt
die Poetik des echten Romans weite Ausblicke in alle
Lebensmöglichkeiten.
Es gibt Ich-Romane, solche, die wie Lebensbeschreibungen aussehen,
auto- biographische Romane und
Erziehungs-Zeit-Weltanschauungs-Volksromane. Die einen sind
illusionslos, die anderen voller echter und unechter Idealismen. Man
unterscheidet in der Geschichte des Romanes sentimentale Romane und
empfindsame, und didaktische (lehrhafte), und satirische und komische
Romane; zum Teil sind dieselben in Chronikenstil abgefaßt oder als
Briefromane gegeben oder als Tagebücher, bisweilen im Zwiegespräch, mit
und ohne Lyrik darinnen; zur Roma kommt fast auf jeder dritten
Romanseite ein Gedicht zum Abdruck, ein Lied wird vorgetragen, Musik
fällt ein, die Musikbeilagen in Noten fehlen nicht. Folgen die
geschichtlichen Romane, die dünnen Suppen, darinnen fast jede Person
der Welt- und Geistesgeschichte einmal oder. mehrfach „als Roman“
abgehandelt wird; es gibt den Roman eines Buchs, den Roman der Oper,
den Roman der Archäologie, ferner Romane aller nur denkbaren seelischen
Haltungen und Entgleisungen — —‚ der Mißbrauch der Vokabel »Roman“ ist ohne Grenze: denn ohne Grenze ist
die Mißachtung, welche der effektvolle Schriftsteller dem echten
Dichter von Romanen zum Ausdruck bringt. Effektvoll erzählen macht das
Wesen des Romanes eben n i c h t aus Denn der „Roman“ ist und bleibt
ein Kunst werk. „Sein Sinn und Wesen liegt in der eigenen Bewegtheit,
und zwar in der inneren Bewegtheit, weiche sich von dem Mensch auf den
Menschen über trägt, ohne daß dazu eine andere Romanhandlung nötig
wäre, als nur der unbestochene Blick des Künstlers, der auf allen
Dingen unserer Lebenslandschaft ruht und deren stille Wechselbezüge
ausspricht.“ Dieser Satz, als Motto vorangestellt, redet ganz gewiß
nicht etwa, wie es oberflächlicher Betrachtung erscheinen könnte, dem
solg. psychologischen Roman das Wort, sondern blickt auf den Künstler,
welcher sich mitte des Romanes anschickt, das Leiden der Welt und das
Leid des Menschen durch die Gewalt seiner Dichtung (nicht etwa seiner
Ironie darinnen zu überwinden. D e r e c h t e R o m an i s t nicht
Unterhaltung, sondern Weisheit . .‚ er ist nicht spannende Erzählung,
sondern Blick in die Weite der Welt, und zwar im- bestochener Blick. Um
es in einem derben Vergleich zu sagen: der Roman ist kein Dirrnenhaus
und ist keine Mördergrube, er ist auch kein Andachtsbuch und kein
Konversationslexikon, sondern d e r d 1 c h t e r is c h e S c h ö p
fer eines Kunstwerks, diesmal eines Romans, hat die Gewalt, die
Verantwortung und die Gnade von oben, ein großes Stück Weit zu
überblicken, und dem Leben seiner Leser fruchtbar zu machen. Das ist
sehr viel mehr, als wie einst Emile Zola sprach von dem „coin de la
nature, vue à travers un temperament“ (von dem Winkel der Natur,
geschaut quer durch ein Tempera ment hindurch). Das ist Nachschöpfung,
und keine Hascherei nach Effekt, nach Gepfeffertem und nach
Kinomöglichkeiten. Der echte Roman in der euro päischen Dichtung hat im
Laufe seiner Geschichte genügend bewiesen, daß er um die künstlerische
Strenge weiß und sie an sich und dem Leser üben wird. W e ii dem so
ist, muß jetzt ein Blick auf einiges in Romantheorie und Romandichtung
im geschichtlichen Sinne folgen. Wie oben schon erwähnt, stritt man sich heftig schon zur Zeit des
Dreißig jährigen Krieges in Frankreich um das Niveau des echten Romanes
und warnte vor den bösen Folgen jeglichen Mißbrauchs. Der französische
Roman hat bis zur Stunde aus jener Debatte gelernt, denn dort stehen
die Möglichkeiten, immer wachsend, deutlich geschrieben nebeneinander,
und man kennt sich an seiner Verschiedenheit: Dumas und Sue und Zola
und Balzac und Flaubert und Maupassant (in seinen Romanen) und Anatole
France und Pierre Loti und Gide und alle anderen; der
romanisch-lateinische Instinkt für Formen macht es dem Franzosen
leicht, den „roman de moeurs“ von „moeurs de province“ (vgl. unten) zu
unterscheiden, und die französische Sprache kann mühelos .a 11 e s
sagen, was keine andere Sprache solcher Art vermag. Der deutsche Barock
brachte, langsam von Vorbildern aus dem Auslande sich befreiend,
zunächst Romanungetüme, die alles umfassen wollten und deshalb nichts
fest hielten. In England standen zur Zeit des beginnenden 18.
Jahrhunderts senti mentale und psychologisierende Kräfte üppig zur
Verfügung. Die Moral betrat nun des Romanes Arena, das erotische und
das sexuelle Moment schieden sich und verfeinerten das
Landschaftsempfinden von Dichter und Leser. Kein Wun der, daß der Roman
subtil wurde, dann raffiniert, dann langweilig. Aber 1774 konnten
Blankenburg in seinem „Versuch über den Roman“ feststellen, daß man mit
den zwei Fassungen von Wielands „Agathon“ gewaltig weit gekommen war,
auch wenn Thomas Abbt dem widersprach und meinte, die Deutschen hätten
im Roman noch nichts aufgestellt, das eine eigene Gattung aus machte..
Plötzlich war das aber vorhanden: in Goethes „Werther“ finden sich
Stilelemente im einheitlichen Roman zueinander, welche die Welt
anerkennen mußte. Die Romane der deutschen Romantiker und ihrer
Zeitgenossen verjüngten alle Möglichkeiten, Novalis, Hölderlin, Jean
Paul, Immermann, die „Nachtwachen“ von Bonaventura, Eichendorff, Tieck.
. .‚ der deutsche Frauenroman, die gewaltigen Leistungen Gottfried
Keilers, Fontanes, bis zu den Zeitgenossen von heute . . . Wollte man
nur ein Verzeichnis der Namen und Titel gehen, schon das würde ein
Büchlein, beginnend mit den Robinsonaden, mit den pietistischen Romanen
Jung-Stillings, mit den Reiseromanen. Damals stand Deutschland noch
nicht allein, man sprach in Europa miteinander in Kunstwerken. Manzonis
„Die Verlobten“ galten ebenso wie die Russen, wie Tolstoi und
Dostojewsky, wie Gontscharow und Turgenjew, der Däne Jens Peter
Jacobsen wirkte nicht minder stark als Gottfried Keller, Jeremias
Gotthelf und Conrad Ferdinand Meyer . . . Der Roman als Kunstwerk s t a
n d und er steht noch heute trotz aller Erlebnisse, weIche die
Geschichte der Kunstform des echten Romans verwickelt und kaum mehr
übersehbar machen. Stendhal-Beyle wurde wirksam in eben d e n Jahren,
welche dieser Dichter vorausgesagt hatte als Zeitpunkt, da man ihn
verstehen werde, und gewichtige Stimmen kamen erneut aus dem England
der nachvictorianischen Zeit, um nur Oscar Wilde zu nennen, ganz zu
schweigen von der noch jungen amerikanischen Romanproduktion von heute,
deren Wirkungen einstweilen noch nicht abzusehen sind. Zwischenspiele,
wie der Kriminalroman von einst, um nur Conan Doyle zu nennen . . .‚
Zwischenspiele, wie der Reiseroman von Karl May, von Josef Conrad, von
MeIville . . . ‚ Zwischenspiele, wie Chevalliers „Clochmerle“ in seiner
einzigartigen Weltüberlegenheit zu nennen, macht die gegenwärtige Lage
des europäischen Romanes nicht ein facher.
Wo steht man? Worum handelt es sich denn schließlich noch? Wirkt es
nicht lächerlich, solchen Fluten von „Kunstwerken“ gegenüber noch eine
Theorie der Romanpoetik zu geben? Das sind ernste Fragen. Zahllose
Leser finden sich längst nicht mehr zurecht, und dies um so weniger,
als Beliebtheit, jähe Mode, viel Reklame nebst unkontrollierbaren
Unterströmungen, auch politischer Art, die Verwirrung der Gefühle des
Lesers keineswegs min dern oder aufhalten. Ganz im Gegenteil: Sensation
um jeden Preis Was nicht hindert, daß es kein Hexenwerk ist, in
mehrjähriger, gedeihlich vollzogener Romanlektüre völlig klar und
deutlich quer hindurchzusehen. Wohin denn? Dorthin, wo ein jedes
Kunstwerk zielt, hinführt und endet: beim Wandel der Menschen vor ihrem
Gott, f ü r ihn oder w i d e r ihn. Und dabei bleibt es, einerlei, wie
viele Romane noch kommen werden oder wieder ent deckt werden könnten;
Vergessenes, Peinliches, Verschwiegenes, Unterdrücktes.
Die Kunstform des Romans, so locker sie auch sei, besteht unverändert,
d. h. das N i v e a u des Dichters und des Lesers müssen zueinander
finden. Das Lesepublikum wird ‘bald mehr, bald weniger anspruchsvoll
sein, die Autoren aber ebenfalls, insoweit sie „Künstler“ sind und
keine Lohnschreiber mit viel Technik. Das Kunstwerk des Romans, so ganz
im allgemeinen genommen, bleibt unverändert. Denn der Künstler sieht
die Bewegtheiten allen Lebens und versteht es, sie wechselseitig
fruchtbar zu machen. Ob er dabei immer und stets ganz „selbständig“ sei
und bleibe, ist die nächste Frage, denn der Dichter ist Membran seiner
Epoche, also erschütterungsfähig, im Zu stimmen und im Verneinen —‚ und
mancher Lohnschreiber ahnt gar nicht, w i e sehr indirekt er einer
Künstlerschaft Dritter später einmal Vorschub leistet, ja ursächlich
für eine solche Künstlerschaft sein kann.,, Denn welcher Mensch weiß,
was im Menschen ist, als nur des Menschen Geist, der selber drinnen
ist“ . . . Dieses ernste Wort des Apostel Paulus gilt sehr viel weiter
als für jenen in der Tat außerordentlichen Sonderfall in der Geschichte
des Romans überhaupt. Das Verantwortungsbewußtsein des echten Dichters,
welcher einen Roman schafft, ist sehr viel größer als die meisten
seiner Leser auch nur ahnen: der wahre Künstler bedenkt die Folgen und
das Ende.
*
„Das Ende?“ — Gewiß, denn s o ernst ist alles das, was in Poetik und
Buch vom echten ‚.Romane“ schließlich nach all den genannten
Möglichkeiten übrig bleibt. Jedes echte Kunstwerk bedenkt frühzeitig
sein Ende, das unausweichlich kommende Ende der Zeit, der Kräfte, der
Umstände . . . ; es kommt nämlich nicht darauf an, daß im Roman der
Hans seine Grete bekommt, sondern vielmehr darauf, daß ein Ausschnitt,
ein Bild dieser Welt angesichts der zu künftigen Welt möglichst in
Weite und Tiefe dem Leser gezeigt werde. Ganz so etwa, wie Albrecht
Altdorfer, Dürers Zeitgenosse, in seiner „Alexander schlacht“ ein
Gemälde schuf, dessen Vordergrund sehr deutlich, fast umständlich,
jedenfalls gründlich, die berühmte Alexanderschlacht zeigt, mit
Heeressäulen, Aufschwung, Sieg und Tod; aber das Gemälde läßt in die
Weite der Welt hinausblicken, irr unerreichbare Fernen, welche mit der
gegenwärtigen Alexanderschlacht nur das eine gemeinsam haben, daß
dieselbe sich darinnen immerhin vollziehen mag —. Das G a n z e wird
sie nicht stören, und Sonne und Mond stehen am weiten Himmel und
scheinen auf alles, ohne sich um die weltgeschichtliche Schlacht zu
kümmern. Wenn ein Künstler sich daran- macht, einen „Roman“ zu
schreiben, dann wird er weder einen klugen Fuchsbau entwerfen, noch die
Lexika ausschreiben, er wird seiner Ironie und seinem bösen Maule nicht
viele Freiheiten schenken, sondern er wird an diese ganze große Welt
denken und an ihr E n d e. Als bald nach 1900 die sog.
„Erziehungsromane“ geschrieben wurden, da dachten K ii n s t 1 e r,
etwa wie Hermann Hesse in seinem „Unterm Rad“ und „Peter Camenzind“ ‚
nicht dauernd an ihren Zögling, sondern an die Welt und deren Wandel;
als die sogenannten „historischen Romane“ aufkamen, also insbesonders
die großen Dichtungen Mereschkowskis, da dachte dieser nicht an
Leonardo, an Julianus Apostata, an Peter den Großen und seinen Sohn
allein, sondern an das Ende der irdischen Weit, deren Christ und
Antichrist zu zeigen, seine Aufgabe war.
Deshalb ist es auch verständlich, daß in neueren Zeiten man darauf
verfiel, den „Roman“ eines Romans, der Weltgeschichte, einer Oper usw.
zu schreiben. Freilich — der Stoff reizte; die geringe Fähigkeit,
selber Menschen und Umstände zu erfinden, kam hinzu. Man verlor sich
dabei — denn die Poetik unter scheidet wortkarg und kategorisch den
Roman von der Erzählung, von der erzählten Geschichte, vom Bericht. Die
letzteren haben geringere Verpflichtungen vor dem großen Leben
schlechthin. Sie nähern sich der nicht unwichtigen Sonderart des
„Schlüsselromanes“; darunter versteht man vordergründlich jene
Darstellungen, die sich unter maskierten Personen, Namen und Um ständen
verstecken, und tatsächlich völlig anderes dem Wissenden und dem Kenner
sagen, als der gewöhnliche Leser im Buche liest. Der Schlüsselroman hat
die Entscheidung, •e n t w e d e r geht er in den Skandal, in die Nähe
des Polizeiromans und dergleichen, o d e r er weist in die Ewigkeit,
wofür Jung Stillings vierbändiger Roman „Das Heimweh“ samt einem extra
und insbesonders ausführlich gedruckten „Schlüssel“ ein wenig
gekanntes, aber außer ordentlich wertvolles Beispiel bietet (1793
ff).
(Fortsetzung folgt)
Aus Die Lesewelt Zeitschrift des Deutschen Bücher Bundes, DBB, Düsseldorf 3.Jahrgang Heft 11, Augusti 1952 S.340-349
ADOLF VON GROLMAN
Von den verschiedenen Arten des Romans und von den Blickrichtungen dabei
(Fortsetzung und Schluß)
Humor, Satire und Ironie im Roman
Das Humorloseste, das es gibt, sind die theoretischen Werke über das
Wesen des Humors, das darin besteht, daß das eine Auge lacht, indessen
das andere weint: es ist das Doppelgesichtige, was es erschwert, eine
Begriffsbestimmung des Humors zu wagen; denn beim Humor gilt nicht nur
der Doppelsinn des Lebens, sondern auch das, was man, fern dabei von
Sigmund Freud, die Ambivalenz der Werte nennen mochte (ambo = beide;
valere = wert sein): Freud und Leid, Lust und Leid, Ernst und Scherz,
immer ist der Humor darin wirksam, daß ein ,,Beides" gilt, in
Überlegenheit, die weder fern, noch fremd, noch krittelnd wird, sondern
sich selber gleich bleibt: mit einem Namen gesagt: Gottfried Keller.
Jedoch nicht gleich und friih, nicht immer, nicht überall, nie
grundsätzlich! Die linde Lässigkeit, welche den Humor entstehen läßt,
gilt. nicht fiir den Künstler selbst, denn blitzschnell gleitet der
Humor in Bezirke ab, von dannen er nicht wieder oder allenfalls nur
sozusagen ,,gerupft" wiederkehrt . . . und der tiefste Humorist ist
jener, der fiir Leben und Tod das weltoffene, liebevoll zürnende und
freundlich - aufmunternde seelische ,,organon" hat oder zumindest immer
wieder wirksam zu machen willens und fähig ist. Das kostet ein langes
Leben, ein schweres, voller Selbsterziehung und voller Entsagung, ein
Leben, das sich aufopfert, ohne daß irgend jemand darum wüßte. Denn
Humor ist tiefste Selbstverständlichkeit, will sagen: wer sich selbst
versteht, hilft dem Nächsten durch sein bloßes So - sein.
Die Satire ist eine einseitige, höchst gefährliche Begabung, mit
geschickt verborgener oder verzerrter, scheinbarer Sachlichkeit in
bissigen Äußerungen, Mißstände und Trübes, aus dem die Welt nun einmal
zu weiten Teilen besteht, hart und bisweilen knurrig auszusagen. Schon
Juvenal (60—140) wußte, daß es ,,nicht sicher ist, eine Satire zu
schreiben". Man muß nur einen klaren Blick in den prallen Unsinn,
welcher geschieht, haben, und das, was auf jiddisch ,,Chuzpe" heißt, um
sich satirisch zu äußern. Eine der grimmigsten Satiren, die je
geschrieben wurde, sind die vier Teile von ,,Gullivers Reisen" (1726)
des irischen Pfarrers Jonathan Swift (1667—1745), deren beide erste
Teile wunderlicherweise zum Märchen für Kinder umgearbeitet, bekannt
sind, wahrend kein Mensch das Ganze dieser, England ein fiir allemal
entlarvenden Satire, sich zu lesen anschickt, des irrigen Glaubens, mit
den zwei ersten, ihm schon bekannten Teilen sei alles gesagt. Es hat
keinen Zweck, all die satirisch gemeinten, gewollten und bisweilen auch
gekonnten Romane aufzuzahlen, die es gibt. Zum Erzieher ist der echte
Satiriker viel zu einsam, und was er bietet, wird sich der
,,Betroffene" jedes mal ins Erträgliche umbeugen und damit entwerten;
denn der Satiriker bleibt nur Moralist, Humor aber ist eine Sache der
Ethik, und nidit der Moral.
Ironie aber ist allemal ein Zeichen von Schwäche, ist die, oft
belustigende, meist aber schnell übergangene Äußerung eines
mißvergnügten Staatsbürgers, d. h. eines solchen Burgers, mit dem kein
Staat ,,Staat machen" will: der Ironiker mochte stets mit dabei sein,
glossierend nebenherlaufen, aber er mochte um keinen Preis einbezogen
sein; tut je einmal ein Umstand solches Einbeziehen, dann will der
Ironiker es nicht gewesen sein, und ironisiert sich selber, um aus der
Angelegenheit bis zum nächsten Male draußen zu sein, aber nicht draußen
zu bleiben. Ironie ist bisweilen wirksam, meist über-sachlich, daher
wirkungslos und je literarischer sie sich aufputzt, um so belangloser
wird sie, wiewohl sich allerlei Ironisches sehr belustigend und gern
lesen läßt, ohne daß es viele Folgen anders hatte, es sei denn, daß
eine geschliffene Erwiderung von einer noch geschliffeneren abgelöst
wird. Max von Schenkendorf (1783—1817) hat einmal gesagt: ,,Allzu
scharf macht schartig" und damit den zwangsläufigen Weg der
folgerichtigen Ironie samt Ausgang deutlich benannt.
Satire und Ironie können ganz ungeheuer große artistische, aber nicht
künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten finden; leicht geben sie der
Sprache eines ganzen Volks Zwischentone, welche alsbald den Weg zum
offenen Hohn finden und die künstlerischen Bezirke verlassen.
Weltanschauung, Konfession und Tendenz
Wie ein Dicbter großen Formats die Welt anschaut, zeigt am
eindringlichsten der gewaltige Gegensatz, der zwischen Tolstoi
(1826—1910) und Dostojewski (1821—1881) klafft und den zu studieren,
eine sehr lohnende, aber sehr mühsame Aufgabe ist. Beide Dichter sind
keine ,,Russen" im strengen Sinne 'des Begriffs, was nicht hindert, daß
sie Rußland mehr vertreten, als tatsächliche ,,Russen", namlich
Turgeniefif und Gontscharow. Tolstoi, zwischen Extremen der
Lebensführung unsicher schwankend, 1900 von den Griechisch-Orthodoxen
exkommuniziert, fand in Theorie und teilweise auch in Praxis den Weg zu
den Evangelien an sich und damit zu einem, in manchem frühchristlichen,
Radikalismus, welcher ihn zuletzt alle Dichtkunst hassen ließ. Sein
Ringen um das ,,Recht" (,,Auferstehung" — 1899) hebt tatsächlich
jegliche Rechtsschaffung, -findung, -anwendung auf. Aber Tolstoi ging
viele, weite und widerspruchsvolle Wege: Offizier, Adliger und
Kapitalist, dazu von eigensinnigster Selbstbehauptung, vermochte er die
Nächstenliebe unseres Heilands nur zu ahnen, nicht s o zu betätigen,
wie er es insgeheim sehr wohl ahnte, daB es richtig sei. Seine
ungeheure Begabung fur alles, für den geschichtlichen Roman (,,Krieg
und Frieden" — 1867—1869), fur Märchen, Volkserzahlungen und Legenden,
fur effektvolle, oft krasse Buhnenwerke (,,Die Macht der Finsternis" —
1886), für Tagebuchaufzeichnungen, Eheprobleme (,,Die Kreutzersonate" —
1890). Diese ungeheure Begabung lief im Kreis, weil Tolstoi die äußeren
Umstande nicht meistern wollte oder konnte. Er hob seine stets wieder
aufschließende Autorität jedes mal selbst wieder auf, gelangte eben
nicht dorthin, wohin er in wahren Stunden hinstrebte, und starb, sich
selbst ein Paradox. Das Weltleben aufzuheben, und nidit blofi zu
verneinen, war ihm versagt. In einem verwegenen, bisweilen durchaus
abenteuerlichen Lebenslauf voller Aufschwunge und Abstürze hingegen zog
Dostojewski durchaus anders denn Tolstoi die irdische Bahn. Der Tod
durch Hinrichtung war ihm gegenübergetreten und hatte ihn nicht
angenommen, das Hazardspiel, das Verbrechen, die Maske und viel
Ausweichen ließen ihn dementsprechend Menschenschicksale erleben und
darstellen, in der Art von Fortsetzungen von Zeitungsromanen beinahe,
die man seither s o nicht mehr erfahren hat. Seine ,,Memoiren aus einem
Totenhaus" (1861) sind heute aktueller denn je. Sein ,,Idiot" (1868)
ist tatsächlich ein ,,idiotes" (griechisch; deutsch: ein Fremdling),
,,Schuld und Sühne" (1867) bleibt ein Grundlehrbuch aller jener, die
-sich mit Fragen des Rechts befassen wollen, von allem andern sonst zu
schweigen. Zwischen Tolstoi und Dostojewski klafft jene Kluft, die kein
Mensch bewältigen kann, von der man aber seit dem Wirken beider Männer
mehr weiß denn früher: es ist die Krisis selbst, und die
Unausweichlichkeit des modernen Menschen seit dem Ende des Wiener
Kongresses, angesichts der Maschine, der Naturwissenschaft und aller
Technik; den oflfensichtlich entthronten Geist zu retten, kurzum den
Satan, Herrn aller ,,Dämonen" (1871), dem ewigen Gott im Sinne des
Chnistentums wieder zu unterwerfen: das ist die große Kluft. Dadurch,
daß Tolstoi und Dostojewski stets Dichter und Künstler sein und bleiben
wollten und sich ohne jede Ausnahme nicht aus dieser Provinz wegtreiben
oder umwerten ließen, stehen ihre Dichtungen als solche da, und nicht
etwa als Programme fiir Dritte.
Das tiefste und gewaltigste Werk, das Deutschland im Sinne des
Anschauens der Welt hervorbrachte und das neuerdings aus seiner
Vergessenheit entrissen ist, sind ,,D i e Nachtwachen von Bonaventura"
(1805). Der Verfasser des in 16 scheinbar zügellosen Kapiteln sich
gebenden Romanes ist, trotz aller wissenschaftlichen Bemühung, noch
nicht entdeckt. Es muß ein Jurist gewesen sein, ein Praktiker, ein
ausübender Jurist, dem die gesamte Publizistik und Dichtung der Zeit zu
Gebote stand, und der in anderen Werken voller Satire und politischer
Hinsicht irgendwo und irgendwie wirkte, ein herrischer, mehrmals
politisch verfolgter Mann, vielleicht ein sehr hoher Beamter voll
Kenntnis in Medizin, Philosophie, Seelenkunde, Nationalökonomie,
katholischem und protestantischem Kirchenrecht samt römischem Recht,
bei Bedarf mit journalistischer Virtuosität etwas anmerkend, Kenner der
Hofe von damals und der beginnenden Metternichschen großen Politik, und
gleichzeitig ein Dichter, dem nichts, aber auch. gar nichts fremd war.
Viel wichtiger als der Verfassername ist der Inhalt: zunächst sieht es
aus, als ob zügelloser, beinahe anarchistischer Nihilismus, also ein
völliges Verneinen aller menschlichen Werte und Möglichkeiten, kurzum
,,das Nichts" Ziel und Ergebnis dieser Weltanschauung sei. Je tiefer
man aber Best, um so mehr wird man gewahr, daß die Existenz dieses
Dichters größer ist als seine Schau ins Menschenleben, und daß besagtes
,,Nichts" sehr wohl die von den Menschen in den Wind geschlagene und
fur nichts gehaltene Ewigkeit kennt, darinnen jenes irdische ,,Nichts"
aufgeht und an der Wiederbringung am Jüngsten Tage, mit bescheidenster
Hoffnung, teilnimmt. Durch zahlreiche Neudrucke nach 1945 ist dieses,
vorher nur den Fachkreisen bekanntgewesene, Dichtwerk allgemein
zugänglich geworden, ohne da8 man jetzt schon von Wirkungen desselben
sprechen konnte-.
Konfessionelle Dichtung als Roman ist deshalb selten, weil meist das
Dichterische von Propaganda oder Polemik in solchen zahllosen
Veröffentlichungen verdeckt, ja sogar unbeliebt sein wird. Den ,,Geist"
einer Konfession zu zeigen, ist eine künstlerische Aufgabe, und das ist
etwas anderes als Versuche zur Missionierung. Zwei Künstler haben es
mit großer Kraft unternommen, den Geist ihrer Konfession zu zeigen, als
Kunstwerk wohlverstanden, ohne viel Worte zur Poetik dabei zu machen.
Jeremias G o t t he I f (wirklicher Name: Albert Bitzius — 1797—1854)
hat den lutherfesten, schweizerisch gefärbten, dörflichen
Protestantismus samt seiner Ethik mit unerhörter, schlichter Kraft echt
evangelisch festgelegt, vorab in ,,Uli, der Knecht" (1841); und die
Konvertitin Gertrud von le Fort tat fur den Katholizismus das gleiche
(1928) mit dem sehr überlegenen, auch das Wesen der Stadt Rom
meisterhaft zeigenden Buch: ,,Das Schweißtuch der Veronika."
Einmal ist sogar ein reines Tendenzbuch, das sich f'iir die Befreiung
der Neger in den USA einsetzte und sie erreichte, gleichzeitig ein
Kunstwerk geworden: wir meinen (1852) ,,Onkel Toms Hütte" von Harriet
Beecher-Stowe (1811—1896): auch als Dichtung selten erreicht in der
Klarheit, Menschenschicksale oberhalb der Zeit zu sehen, je mehr sie
gleichzeitig i n der Zeit, und zwar in einer argen, drinnen standen.
Der Kunstlerroman
Der Sonderfall des sogenannten ,,Kunstlerromanes" setzt irgendeinen
geschichtlichen oder bloß erdachten bildenden oder ausiibenden
,,KunstIer" in den Mittelpunkt einer Darstellung; der Leser mu6
entweder auf Treu und Glauben hinnehmen, d a ß besagter, erdachter
,,Künstler" solches auch tat-sächlich s e i, oder er mu6, wenn es sich
um eine geschichtliche Persönlichkeit handelt, sich der Aufifassung des
Schriftstellers oder Dichters u b e r besagte Persönlichkeit
anschließen. Beides wird dann um so schwieriger, wenn sich das
gewünschte ,,Kiinstlertum" in Grenzbezirken des
bürgerlich-unbürgerlichen Daseins bewegt oder in den Nachbarschaften
der Artistik, der ,,Boheme" von einst und heute, des Sports usw.
Wechseln Einzelschicksal eines ,,Künstlers" mit ebensolchen einer
künstlerischen Gemeinschaft, eines Kreises und dergleichen ab, so
entsteht eine seelisdie Landschaft, deren Glaubwürdigkeit meist gering
sein diirfte. Künstlerbiographien, wie wir sie z. B. Remain Holland
oder Stefan Zweig verdanken, haben mit dem Gesagten nichts zu tun.
Der Künstlerroman, so etwa, wie Thomas Mann einst das Wesen des
künstlerisch Schaffenden auffaßte, beschäftigt sich gern mit den
Grenzbezirken des Lebens, so dafi im Künstler-Abenteurer sich ein
moralisches, bisweilen auch ein ethisches Problem auftut; die
,,besondere Leitung", zu welcher der Künstler verpflichtet ist, und
welche allein ihm seine unbürgerliche Sonderform des Daseins bis zu
einem gewissen Grade gestattet, mufi der Leser des Romans glauben,
hinnehmen, gewahren lassen. Dies gilt insbesondere fur erotische und
sexuelle Fragen, von Thomas Manns ,,Der Tod in Venedig" (1913) zuruck
bis zu Oscar Wildes ,,Das Bildnis des Dorian Grey" (1891). Den ersten
deutschen Künstlerroman uberhaupt verdankt man Wilhelm Heinse
(1746—1803), dessen Kiinstlerroman ,,Ardinghello" (1787) — es war eines
von Hölderlins Lieblingsbuchern — Sonderart und Eigengesetzlichkeit des
Schaffenden erkannte und glaubhaft machte. Die Versuche, welche Goethe
in den Stufen seines ,,Wilhelm Meister", die Novalis in seinem
,,Heinrich von Ofterdingen", die da und dort die Romantiker,
insbesondere Tieck, Wackenroder, E. Th. A. Hoffmann und später
Gottfried Keller mit seinem ,,Grünen Heinrich" unternahmen, haben
Heinses Präzision nicht mehr erreicht, und vollends Mörike hatte in den
zwei Fassungen seines ,/Maler Nolten" (1832 ff) die groBte Mühe,
Unaussprechliches dennoch auszusprechen.
Dafiir steht man bei Mereschkowskis ,,Leonardo da Vinci" vor einem
beinahe schlackenlosen, quellenmäßig zuverlässigen Künstlerbild,
desgleichen bei Franz Werf'els ,,Verdi" oder bei Rudolf Grabers ,,Die
Pflegetochter", darinnen eine schmerzliche Episode in Stifters Leben
Ausgangspunkt einer glaubwürdigen Stifterauffassung geworden ist. Trübe
und heikle Grenzbezirke betritt Herman Bang mutig, klar und sauber mit
seinem ,,Michael" (1904) und vollends mit dem Wunderwerk ,,Die
Vaterlandslosen" (19*06); und fiir eine ganze Generation entscheidend
blieb Thomas Manns ,,Tonio Kröger" (1903), weil darinnen schonungslos
Gerichtstag gehalten wurde über das Fragwürdige, d. h. das des
Befragens Würdige jedes Schaffenden, der durchaus nicht immer ,,ein
verirrter Bürger" zu sein braucht.
Der historische Roman
Der ,,historische Roman" ist der zahllos oft unternommene Versuch, eine
erdachte, vielleicht >sogar eine künstlerisch hochstehend erdichtete
Erzählungshandlung in einen Rahmen einzuspannen, der sich mit Personen
und Zeitläuften der Geschichte mehr oder weniger genau und sozusagen
archivalisch bekannt gemacht hat, oder nur als Schmuck und Beiwerk fur
den Verfasser solchen Gebildes dient. Es versteht sich ganz von selbst,
dafi Personen und Ereignisse von einst Anlaß künstlerischer Schau und
Handlung werden sollen, von Homer her; der ,,historische Roman" aber
1st damit nicht zu verwechseln: denn in ihm ist, Ausnahmen vorbehalten,
das Geschichtliche entweder bloßes Vehikel, damit die Sache beginnen
könne, oder :sie ist Füllsel, an dem sich mancherlei ernähren soll, z.
B. die lahm gewordene Erfindungskraft des Autors, die müßige Neugier
gewisser Leserkreise und ähnliches mehr.
Der historische Roman von einst hat einen seit etwa 1918 äußerst
beliebten Ableger, nämlich die ,,historische Belletristik": diese nimmt
sidi zum historischen Roman weder die Zeit, noch die Arbeit, noch die
nötige Gediegenheit, sondern greift sich mit unbekümmerter Hand auf die
Nachsicht der Gebildeten und die Ahnungslosigkeit der Ungebildeten, mit
Glück spekulierend, beliebige effektvolle, ja reißerische und oft
fragwürdige, beschattete und unsaubere Momente aus der Weltgeschichte
heraus, behangt sie mit allerlei Psychologie, macht sie durch
angedeutete und auch geschilderte kleine skandalöse Dinge würzig und
behauptet, künstlerische Werte geschaffen zu haben. Im allgemeinen
kommt es der historischen Belletristik nicht im geringsten darauf an,
im Kunstwerk dem Leser dies oder das aus der Weltgeschichte zu
erhellen, sondern jeder einigermaßen bekannte Namen aus dem
Konversationslexikon ist gut genug, um ihn mit mehr oder weniger Effekt
aufzuputzen, weltanschaulich, politisch oder nationalökonomisch zu
frisieren; einige Abbildungen aus alter Zeit und womöglich einige
Literaturangaben stellen die ,,Wissenschaft" vor, und damit soll das
verlegerische und das buchhändlerische Geschäft belebt werden.
Dies alles steht, ob es nun will oder nicht, in der nächsten Nähe der
Falschmünzerei: denn der Dichter nimmt sich mit Recht Symbole aus der
Weltgeschichte, der Fabrikant ,,historischer Romane" aber wird nur
allzu oft statt Symbolen bloße Bedeutungen packen, Dinge, die einst
etwas vorstellten und die seine Produktion heute nun so heben und
starken sollen, als stellten auch sie etwas vor. Man geht ein großes
Risiko ein, wenn man ganz ohne Warnung und Vorbehalt zuläßt, daß
schriftstellerisch jede beliebige Person oder Epoche mit moderner Sicht
und den Lebensumständen von heute verarbeitet wird, als wäre das Ganze
in dem ,,Ehedem" erlebt und verwurzelt. Und nicht darf vergessen
werden, daß das Überzeitliche eines großen Kunstwerks etwas ganz und
gar anderes ist als das Allzuzeitliche des historischen Romans!
Denn darüber besteht kein Zweifel, daB meistens das Geschichtliche fiir
den Verfasser kaum mehr ist als bloBe Staffage. Die Maske der
Vergangenheit wird zur Aktualität umgebogen, der Abstand, welchen der
Leser zur geschichtlichen Gewordenheit hat, wird ihm gestohlen, ein
beliebiges Ehedem wird ,,aktualisiert"; und was die Meinungen und
Gespräche anlangt, so wird dem Leser zugemutet, als geschichtlich alle
die Gespräche modernster Art hinzunehmen, welche den historischen
Figuren in den Mund gelegt werden.
Gesetzt den Fall, jeder Leser stände oberhalb dieser Dinge und wüßte
alle Geheimnisse des Einst, so wäre der historische Roman eine
glänzende Gelegenheit fur den Autor, seine Ahnungskraft, das Einst
betreffend, leuchten und wirken zu lassen. Da aber, seltene Ausnahmen
wie Gustav Freytag oder Dmitri Mereschkowski ausgenommen, die
Quellenstudien der Verfasser höchst subjektiv, auswählend, zufällig und
wählerisch sind, und da es meist den Herstellern historischer Romane
ganz und gar einerlei ist, was geschrieben wird, wenn es nur gut
,,geht": So ward dem Leser, zumal dem Jugendlichen, außer der oben
genannten Falschmünzerei auch noch der Sinn und der Wert aller Historie
ganz entwertet oder doch so stark modernisiert, daß das kritische
Verständnis des Menschen solcher Art stark beeinträchtigt wird und es
bleibt.
Gleich nachher kommt dann die Ausstattungslust des Films, das
Reßerische des Kinos, das Effektvolle des historischen Hörspiels für
das Radio mit effektvollen ,,Geräuschkulissen", kurzum, das Ende der
Dichtkunst auf diesem Gebiete.
Denn es versteht sich von selbst, dafi ein Künstler, ein Dichter auf
dem Gebiete des historischen Romanes Großes schaffen kann, wenn er
nicht ins Gefilde der Geschichtswissenschaft sich verspinnt,
andererseits aber s o -überlegen ist, aus den Werken der
Geschichtswissenschaft und insbesondere aus den Akten und Quellen von
einst die Essenz (zu deutsch: das wesenhafte Sein) der Historie zu
greifen und alsdann ein überzeitliches Kunstwerk zu schaffen. Ob dabei
dann die Leute reden, wie einst sie etwa geredet hatten, ob dabei in
allem und. jedem das sogenannte ..historische Kolorit" getroffen wird
oder nicht, ist etwas vollig anderes, das mit dem Obenstehenden nicht
verwechselt werden darf.
Schon aus diesen wenigen Bedenken und grundsätzlichen Erwägungen geht
hervor, dafi die Poetik an dem allzu umfangreichen und sehr
unausgeglichenen Kapitel der historischen Romane nicht vorübergehen
darf; die Schwierigkeiten sind ganz ungeheuer groß, und dies um so
mehr, als eine einheitliche Auffassung vom Wesen des Gewesenen, des
Einst, geben kann: also blickt ein jeder sehr einsam. und sehr
verlassen in die Schlünde der Historie samt aller Gräßlichkeit, die
darinnen sichtbar wird und die sich — nur mit geringer Änderung der
Vorzeichen — stets wiederholt. Es gibt tatsachlich nichts Neues auf der
Erde. Der historische Roman kann nicht vollig ohne Grand von sich
behaupten, seine Inhalte und deren Einzelheiten hatten die gleiche
Daseinsberechtigung wie der Kriminalroman fur den Verbrecher, der
Erziehungsroman für den Schüler, . . . daraus abzulesen wie es einst
war, heute ist und immer sein wird: das aber ist das Ende jeder Kunst.
Das ist weder Dichtung noch Literatur, sondern Verführung.
Und in der Tat verführerisch kann der historische Roman sein, wenn er
seinen Leser mitschwingen la'fit in politischen und kulturellen
Zustanden von einst, ihm an sich ganz und gar unzugänglich und
verschlossen, mitschwingen; die erregte Phantasie vollzieht
geschichtliche Schwünge, entzündet sich an Feldherrn, Dirnen,
Gelehrten, Erfindern, Entdeckern, so dafi meistens eine gefährliche
Halbbildung gefördert wird, während das solide Eindringen eines Lesers
in ein Etwas von Einst durchaus unmöglich wird: denn zuviel wird dem
Leser vorgedacht, mundgerecht und schmackhaft vorgelegt, ohne eigene
eindringende Arbeit, also Lesefutter minderer Art, hoch hinauf gelobt
und nicht ohne scheinbare Würde. Angebliche Sachlichkeit überdeckt die
Langeweile, sehr würzige, schwüle und hüchstmoderne Gespräche täuschen
über Probleme hinweg, die einst mit Blut und Gut erkämpft oder gewahrt
wurden, und die Figuren der Weltgeschichte laufen ganz so durch die
bedruckte Gegend, als gehörten sie in die Demokratien nach 1918. An
diesem Punkt ist keine Grenze zwischen der historischen Belletristik
und dem echten historischen Romane mehr. Surrogat der
Geschichtswissenschaft und Surrogat der Schreibekunst eines echten
Dichters sind zur Ablösung vorgetreten; ihnen wird zumeist zu viel
Kredit durch das Lesepublikum eingeräumt.
Der historische Roman ist eigentlich ebenso alt, wie der Roman
überhaupt: also muß er ein Etwas haben, das ihn dennoch dazu gehören
laßt, gerade dann, wenn es aussieht, als höbe er den echten Roman
durchaus auf.
Einer der Väter des historischen Romanes ist Walter Scott (1771—1832)
mit seinem ,,Waverley" (1814); Alfred de Vignys ,,Cinq Mars" (1826) und
Viktor Hugos ,,Notre Dame de Paris" (1831) wurden europäische
Lieblinge. Wilhelm Hauff (1802—1827) spurt etwas vom Problem, und nennt
ausdrück-lich seinen ,,Lichtenstein" (1826) ,,eine romantische Sage aus
der württembergischen Geschichte"; denn er spürte mit feinen Sinnen,
dafi es bei dieser Art von Stoff nicht überall mit rechten Dingen
zuginge; er sah auch wohl den kommenden ,,Realismus", wie Gottfried
Keller und Jakob Burckhardt ihn meinten (also die Sachlichkeit als
Grenze zur romantischen Verstiegenheit), und stellte sich wissend,
frühwissend, ein ganz jung Gestorbener auf einen ästetisch und die
Poetik anerkennenden, sicheren Boden. Wilibald Alexis (Theodor Haering)
(1798—1871) bearbeitete geradezu die brandenburgisch-preußische
Geschichte, Band nach Band. Es kamen Scheffel (1826—1886) mit seinem
,,Eckehard, eine Geschichte aus dem 10. Jahrhundert" (1855) und Gustav
Freytag (1816—1895) mit seinen Serien, z. B. den ,,Ahnen" in acht
Ba'nden (1872—1881), alsbald Felix Dahn (1834—1912) mit seinem ,,Kampf
um Rom" (1876) nebst den ,,Professorenroman" von Georg Ebers (1837—
1898). Doch steil und klar hebt sich von alledem die edite
Künstlerschaft Gottfried Kellers (1819—1890) ab. Sein güldener
Legendenton und seine erlebte, persönlichste Erkenntnis des Menschen
mitten in der Historie, sein Humor und sein schwermütig-wissender Ernst
machen es Konrad Ferdinand Meyer (1825—1898) schwer, sehr schwer, in
Konkurrenz zu treten und zu bleiben: denn Meyers-Begabung drängte, je
geschichtlicher er sich gab, um so stärker in seine eigene Gegenwart,
aber Meyer schrieb, die Gegenwart anlangend, nicht etwas, wie es
Gottfried Keller als vielumstrittenes Schlußwerk mit dem ,,Martin
Salander" fern von aller Historie gelang, einen zeitkritischen
Gegenwartsroman, welcher selbst Geschichte sagt, wo es noch zu gar
keiner Historie gekommen war (1886).
Die Poetik, den (geschichtlichen) Roman anlangend, steht hier vor
heiklen Entscheidungen. Allzu deutlich stehen sich Muster, Vorbild und
Nachäfferei gegenüber, allzu deutlich zeigen sich größte Künstlerschaft
und Berufsschreiberei voreinander, angesichts einer nicht zu
übersehenden Menge von Werken, die heutzutage^ meist ganz vergessen
sind, so sehr drangt einer nacb dem anderen, Jahr um Jahr. Theodor
Fontane (1819—1898) schließt diese Reihe der größten Dichter
historischer Romane ab. Er selbst wendet sich bald ganz bewußt und
seiner echten Künstlerschaft immer gewisser werdend, seiner eigenen
Gegenwart zu.
Es hat keinen Zweck, jetzt eine Tabelle all der wichtigen und
eigentümlichen historischen Romane zu fertigen und den Lesern damit zu
verwirren: es folgen Sienkiewicz und Jakob Wassermann und Ricarda Huch
und Alfred Neumann und Lion Feuchtwanger. Adalbert Stifters ,,Witiko"
ward neu ent-deckt, Flauberts ,,Salainbô" ragt aus früherer Zeit (1862)
herein, und was unsere Gegenwart anlangt, so erscheint in ihr nur noch
ausnahmsweise eine Romandichtung, welche nicht mehr oder weniger
geschichtliche Personen oder Anlasse zum Gegenstand hatte. So sehr hat
sich eine Möglichkeit des Romanes in den verschiedenartigsten
Schattierungen durchgesetzt, wobei jedermann weiß, dafi es nicht ganz
mit rechten Dingen dabei zugeht. Die Dichter von heute hüten sich,
Persönlichstes in einer Gestaltung preiszugeben, man hat die Geschichte
als einen ,,neutralen" Boden der Romanschriftstellerei entdeckt, wobei
Leistungen, wie die von Stefan Zweig und seinem Vielwissen, sehr
überragen.
Sollte es eine Zeitlang etwa so sein, dafi mittels des geschichtlichen
Romanes der Chronist von ganz ehedem abgelost worden ware? Also dafi
die Tageszeitung und ihr Radio nur fur den Augenblick arbeiten und es
der' historischen Belletristik und mancherlei scheinbarer Arbeit an
Lebenserinne-rungen und Belletristik überlassen bliebe, >den
beliebigen Kommentar dazu zu verfassen? Damit wäre das ganze Gebiet an
sich nicht mehr Gegenstand der Poetik, würde mit der Jahrhundertwende
ungefähr enden. Was nachher kommt, ist Publizistik mit historischen
Mitteln, aber keine Dichtung mehr.
Es ist gut, die Betrachtungen über das Wesen des Romanes mit solchen
Fragen zu schließen. Eingangs mußte festgestellt werden, daß ,,Roman"
eine spröde Vokabel sei, ferner, daB der Roman sehr leicht, je moderner
er wird, an die Grenzen einer Kunstform überhaupt gelange. Mit dem
,,historischen Roman" scheint es in der Tat so gegangen zu sein,
weshalb er auch absichtlich samt seiner eigenen Problematik an den
Schluß der Sonderformen gestellt wurde.
Poetik stellt auch keine Gesetze auf, sondern versucht, Erscheinungen
des geistigen Lebens begrifflich zu bestimmen. Der ,,historische Roman"
und seine Entwicklungen beweisen, welche Aufgaben den kommenden
Poetiken später vorgelegt werden, und damit beweisen sie etwas ebenso
Wichtiges: daß das große Leben des Romanes nicht still steht. Es ist in
einem dauernden Wandel und Wechsel begriffen, eine Tatsache, welche dem
Betrachter große Ruhe gewahrt, mehr noch: eine Gelassenheit voller
Sympathie fur dieses Lebendige selbst, das auf seine Weise um die
Erkenntnis der Erscheinungen des Lebens ringt, und sich um Antworten
muht auf Fragen, welche über alle Menschenkraft hinausgehen. Denn
schließlich kommt es ja gar nicht mehr auf den einzelnen Roman und
seinen Dichter an, sondern auf das Leben selbst, und auf die
Wechselbezüge darinnen, vorausgesetzt, da8 der Blick des Künstlers
unbestochen bleibe, und j a sich nicht kaufen lasse von der
trügerischen Münze allen Scheingelds, das heute gilt und morgen
widerrufen oder abgewertet, und übermorgen vergessen sein wird.
Aus Die Lesewelt Zeitschrift des Deutschen Bücher Bundes 5. Jahrg. Heft 3/4 März/April 1954
ADOLF VON GROLMAN
3.Teil der,,Poetik":
,,Der Dialog zwischen Menschen auf einer Bühne"
,,Das Gespräch zwischen Menschen und die Bühne" Der 1. Teil
dieser kleinen ,,Lehre von den Dichtformen" (Poetik) hatte sich der
Prosadichtung zugewendet; der 2. Teil befaßte sich mit der
Versdichtung: mit dem nun beginnenden 3. Teil wend en wir uns einem
sehr umfangreichen und überaus vielseitigen, sehr umstrittenen Gebiete
zu, nämlich der Bühnendichtung und dem Für und Wider das Theater
überhaupt.
Zu allen Zeiten hat das Schauspiel mit mehr oder
weniger Handlung samt der Äußerungvon ernsten und heiteren Gedanken
innerhalb solcher ,,Handlung" (Drama) die Geister der Menschen aller
uns bekannter Orte, Kontinente und Zeiten beschäftigt. Das L e b e n
der Menschen ist nun einmal so, daB sie einander mit und ohne Worte
Theater vormachen, wobei zahllos sind und bleiben die Zwecke, die mit
solcher Darstellung von Personen, Sitten und Situationen verbunden
werden konnte. Das W e s e n jedes Menschen aber ist außerdem so, daß
mit oder ohne Absicht seinen Mitmenschen gegenüber der Mensch nicht
umhin kann, sich selbst innerhalb einer Vielfalt von Rollen zu
empfinden und daraus dann und wann dies oder das herzeigen zu m ü s s e
n : es ist dem Menschen offensichtlich nicht gegeben, stets der Gleiche
und der völlig Wahrhaftige sein zu können oder sein zu dürfen; vielmehr
zwingen ihn die Spruche und Widersprüche des Lebens schlechthin dazu,
vieles vorzustellen und vieles n a c h zuahmen. Schon das kleine Kind
ist und bleibt, wo nicht ein Komödiant, so doch ein kleiner
Schauspieler und Darsteller; bis weit in die Tierwelt hinein beobachtet
man bei der Kreatur das Gleiche, Tarnung, Mimikry, und allerlei
sonstige Sichtbarmachung zwingen auch das Tier, vorab den Affen, das
Pferd, den Hund, die Katze . . . aber auch die nicht .domestizierten'
Tiere dazu, ihrer Umgebung, insbesonders ihrem Herrn, Vorstellungen zu
geben; kommt noch ein wenig Dressur hinzu, so ist e i n e Möglichkeit
der Schaudarstellung in vollem Gange: der Zirkus.
Doch nicht genug: das Religiöse äußert sich zu einem
erstaunlich großen Teil in Schau und Darbietung, das religiöse Sinnbild
genügt unter keinen Umständen, der Gott und das Göttliche werden von
Menschen Dritten gegenüber zur Schau gestellt, . . . jeder Kult tut
das, die Prozessionen, die Vorgange bei aller Art von Opfer: dies ist
bei den sog. Primitiven völlig ebenso wie bei den differenziertesten
Kulten, um nur die altgriechischen Mysterien, etwa die von Eleusis, zu
nennen, oder die Vorgange des Mithraskults, die asiatischen Tempelriten
samt Tanz und Musik, der Juden Stiftshütte samt allen Riten, die
christlichen Kulte aller Art samt den Oratorien, Mysterienspielen,
kurzum: der sichtbare Gottesdienst.
Es gibt Volker, welche sich nicht genugtun können, jede Darstellung
solcher Art zu steigern. Selbst der Kinobesuch bei den Deutschen ist
nur dem Grad nach etwas weniger umständlich und gehoben-feierlich, wie
die Aufführungen in Bayreuth vor 1933. Was nach 1933 sich an Darbietung
und Schauspiel vollzogen hat, ist kaum etwas anderes als ein
Zusammenrucken von Kinotechnik und einseitiger Überbetonung der
Politik. Das Schaubedürfnis der Menge, die nicht etwa nur in die
Guckkastenbühne gucken, sondern die auch anderweitig schauen, oft nur
glotzen mochte, . . . reicht bis zum Fußballspiel, zur Wahlversammlung,
zu Kriegs- und Siegesfeiern samt Totenehrung: das ist nur scheinbar
etwas anderes, als was Schiller nannte: die Bretter, welche die Welt
bedeuten . . . ,,bedeuten" vom Beschauer her gesehen. Vom Menschen der
Bühne her aber gesehen, also von dem Schauspieler, dem Dichter und dem
Bühnenunternehmer her gesehen, sind diese Dinge äußerst real; da
,,bedeuten" sie nichts mehr, sondern sie sind Geld, Geldersatz, Wert
und Profit samt allen Stufen des Ehrgeizes, des Geltungstriebs ohne
Hemmung, des Triebs, zu wirken, zu beeinflussen, kurzum: Mittel zur M a
c h t.
Denn mit aller Technik wächst auch die Macht, den
Leuten etwas vorzumachen, sie suggestiv zu bestimmen, ihnen Gefühle zu
erwecken, wie Erhebung, Tranen, Gelachter, Instinkte aller Art. . .
Wo Menschen sind, sprechen sie entweder miteinander
(Dialog) oder mit sich selbst (Monolog) und zeigen einander das, was
nach den jeweiligen Umständen gezeigt werden soll: das kann übertrieben
edel sein, und kann Abschaum sein, Lockung des Wunderfitzes, Kitzel des
Sexuellen, Gier nach dem Anblick des Bösen, mahnender Hinweis auf das
ewig Gutbleibende, Edle . . . einerlei, der Schauspieler und Sänger,
kurzum, der Komödiant (ohne bösen Nebenklang) ist so gut, wie niemals,
er selbst; das gibt ihm die schmerzhafte Zweideutigkeit des doppelten
Ich, gibt ihm die Fähigkeit, von einer Rolle auch außerhalb der
Darstellung in eine andere Rolle zu gleiten, wobei von ,,Künstlertum"
noch keine Rede zu sein braucht, sondern wiederum vom Geld und dessen
Erwerb, solange der kurze Ruhm des ,,Mimen" das zuläßt. Daran andern
auch die allerschönsten Vorsätze und Worte nichts.
A
Etwas vom Dialog
Jede Vorstellung gründet sich auf Gespräch, das
entweder original den Leuten angesichts von Situationen aus dem Munde
kommt — oder das als erdachtes Gespräch des Dichters auswendig gelernt
und deklamiert wird. Es ist also das Wort, das aus dem Menschen
herausgeht, angesichts von Partnern auf der Bühne und von Hörern,
Zuschauern, die das hören s o ll e n. Jedoch dem Schauspieler ist,
zumal bei den Extremen des komischen Vorgangs und der Politik, ein
,,Improvisieren" möglich, d. h. nur dem scheinbaren Sinne nach wird
eine Rolle gespielt, tatsachlich zeigt sich ein anderer, sehr
vergänglicher Wortlaut, von dem alsbald ein beweisbarer Text gar nicht
mehr vorliegt; der Schreck vieler Hörer sind die ..Extempore" von
Darstellern, die entweder ihre Rolle schlecht gelernt haben oder kneten
und biegen, wie es gerade zu passen scheint; das Wesen des Komikers
liegt gerade im Greifen nach solchen sich bietenden, durchaus
fragwürdigen Möglichkeiten. Vom ..Extempore" zum Niedrigsten dieser
Gattung, zu den ..lazzi", den (meist schlechten) Späßen ist kein weiter
Weg; aber, wie sie im Hamlet heißen, die ..Gründlinge des Parterres"
wiehern verständnisinnig und sie kommen mit Anhang, die leeren Kassen
füllend. Der Dichter eines Bühnenwerks und der Interessent, welchen
nicht Instinkte, sondern Kunstwillen, bewußter und gekonnter, ins
Schauspiel, in ,,die Komödie" führt, kann sehr wohl an einem solchen
Schauspieler ein kurzes Vergnügen finden, doch kommt er nicht deshalb,
sondern wegen der Darbie-tung einer Dichtung. Und das ist etwas anderes.
Die Rollen also werden irgendwie fixiert,
niedergeschrieben, ihre Summe heißt man dort: Das Buch. Der Dichter,
den die Probleme und die Schönheit des Wortes, des Verses, der
Wechselrede kümmern, schreibt dann ein B u c h -drama, wenn ihm der
Gesichtspunkt des ..Aufführens" (und des Erfolges aller, auch in
geldlicher Hinsicht) nicht das erste ist. Viele Buchdramen,
unaufführbar, weil zu breit, zu kompliziert für den Bühnenabend, werden
zu reinen L e s e dramen; es ist aber oft vorgekommen, daß solche
Lesedramen jäh aktuell wurden. Einerlei: das B ü h n e n drama muß
manche Bedingungen erfüllen. Es mufi sparsam mit den Worten sein; auch
das Gedächtnis des besten Schauspielers hat seine psychischen Grenzen,
auch das Interesse des Hörers kann überanstrengt werden. Folglich muß
Handlung (Drama) das Vehikel der Wortgerippe mobil machen; der bloß
virtuose Schauspieler reißt zwar egoistisch die Szene an sich, aber
auch ohne ihn wechseln die großen Rollen mit den kleinen, Chor und
Statisten tun das ihrige, Musik, Verwandlungen, Effekte beleben,
insoweit sie im Rahmen einer künstlerisch bewußten Einheit des Ganzen
bleiben: echte und unechte Intrigen werden vor dem Zuschauer gesponnen
und entdröselt, die Skala der Gefühle bleibt nicht unberührt, und wo
die Menschen am Ende ihrer Kraft und Weisheit sind, kommt der ,,deus ex
machina", d. h. ein ,,Gott" oder das ,,Schicksal" oder der ,,Zufall"
hauen den Knoten durch, damit das Stück schließlich zu Ende geht. Ist
der Dialog spritzig, sind die Erwiderungen geistreich, sind die Verse
belebt, so das Gespräch beginnt (Stichomythien), dann kommt das
,,Ensemble" zur Wirkung.
Ihm gegenüber steht der Einsame mit seinem Monolog,
mit seiner Grübelei; oft aber kommt auch der Dichter in seinem Text
nicht weiter und springt in Monologe, welche alles das aussagen sollen,
was ihm nicht gelang, in Handlung aufzulosen. (Audi das Vorlesen von
Briefen gehört hierher.) Gerhart Hauptmanns ,,Florian Geyer" ist in
dieser Hinsicht oft kritisiert und belächelt worden. Goethes ,,Faust"
bringt die vielbewunderten Monologe, deren Zweck zum großen Teil nur
jener e i n e ist, die Exposition des Stücks, seine Vorgeschichte, dem
Leser oder Hörer beizubiegen: Monologe müssen außerst logisch und
wirksam kommen, sonst verstimmen sie, wonnig bei Shakespeare, diesem
eminenten Praktiker, etwas oft bei Schiller, etwas gründlich bei
Grillparzer: Monologe tragen, wenn sie richtig sind, enorm viel
Handlung i n ihnen selbst!! Sie müssen um so dynamischer sein, je
statischer der Sprecher sich im Sinne des Bühnenmoments verhalten m u 6
; so geschickt Richard Wagner im Monolog des Hans Sachs handlungsgemäß
war, um so schwieriger ward es mm, die Monolog-Wesen Tristan und Isolde
endlich in den Dialog zu bringen. Denn der Monolog ist wohl kaum die
Haltung des Menschen, sondern die einsamste Stunde allein heischt ihn,
und, wo es sich ums Verbrechen handelt, der schwere Blick auf die
Schwelle, die n o c h rein ist. Die unglaublich große Genialität
Schillers, wo sich Popularität, Bühnensinn und Wortkunst so oft
zueinander finden, hat gerade den ,,zögernden" Wallenstein monologisch
viel klarer geschaffen, als das Goethe j e zuwege brachte, weder im
Faust, noch im Egmont, noch in der Iphigenie; bloß des ,,Dichters"
Tasso Monologe überzeugen, jedoch kaum so sehr wie die absolut
zwingenden Monologe bei Lessing, dessen geniale Einsamkeit solche
beredte Kraft hat, insbesondere im Nathan der Weise.
Das antike Theater, das mit einer festgesetzten Zahl von Schauspielern
und dem Chor rechnen mußte, erblickt im Monolog selbstverständlich
etwas anderes, als der moderne Mensch gewohnt ist; für das antike
Theater ist das Laut denken des Monologisten deshalb in der Nahe des
Gebetes, weil die antike Tragödie gewollt und ungebogen vom religiösen
K u l t herkommt und das betonen, nicht verleugnen will. Und der antike
Chor ist — sieht man deutlich und geduldig dabei zu — sozusagen die
Stimme des antiken Gottes selbst, welche überlegen und völlig
schöpferisch mitten im Konflikt der Geschöpfe dieses Götterhimmels
weiter s c h a f f t und zur Reinigung der Gefühle und der Sitten
(Katharsis) jede nötige Grundlage um so mehr schafft, als Schicksal und
Zufall den Menschen dazu durchaus untauglich machen, was ja gerade der
Inhalt der Tragödie ist. Das moderne ,,Ensemble" kennt solche
Gottbezogenheiten ebensowenig wie der moderne Monolog: das Gebet auf
der Bühne wagen nur große Schauende, und einzig Schiller hatte den
berechtigten Mut, die vielbestrittene Abendmahlszene der ,,Maria
Stuart" zu schaffen und zu erzwingen: denn ohne diese bleibt das Stuck
kopflos.
Jedes ,,Ensemble" aber auf der Bühne bildet eine
,,Gesellschaft" und stellt zudem eine solche dem Publikum wieder dar;
es spiegeln sich also unter Umständen die verschiedensten menschlichen
Möglichkeiten bei nur e i n e m Vorgang! Dies schafft schwerwiegende
Folgen: denn da nichts auf Erden vollkommen ist, so werden auch solche
Darbietungen gesellschaftlicher menschlicher Möglichkeiten Widerspruch
erregen, was keineswegs die Absicht des Dichters und.-.des
Theaterdirektors zu sein braucht . . . Widersprüche, von denen gleich
zu /,den sein wird.
Das nämliche gilt für den äußerst beliebten und
immer wirksamen Trick der Bühne auf der Bühne (Hamlet!): hier sieht das
eigentliche Hörerpublikum der Aufführung sich zum zweitenmal
gespiegelt, und zwar in einer Theateraufführung, welche mitdargestellt
wird samt deren Folgen. Solcher Art kann sich ,,der Dialog unter
Menschen" vollziehen . . . und dies um so intimer, als in früheren
Zeiten die ,,prominenten" Zuschauer selbst auf der Bühne Platz nahmen,
teils, weil die dort beschäftigten Personen sie persönlich nahe
anzogen, teils, um Vorgängen möglichst nahe zu sein: jener Abstand,
welcher heutzutage zwischen dem Bühnenvorgang, dem Bühnenbild
und dem Zuschauer selbstverständlich geworden ist, bestand früher
durchaus nicht; man ging im wahren Sinne des Wortes ,,ins" Theater, und
dies nicht allein, sondern meist war das Theater der Treffpunkt
gesellschaftlicher Gruppen, welche dort durchaus nicht nur wegen eines
dichterischen oder gar bloß literarischen Anlasses allein
zusammenkamen.
(wird
fortgesetzt)
ADOLF VON GROLMAN
,,Der Dialog zwischen Menschen auf einer Bühne"
B
Formen und Gestaltungen
,,Handlung" also!? Aber welche? die Verlegenheiten
jeden Schaubühnenbetriebs beginnen hier: die einen wollen das
tiefsinnige Dichterwort, die andern wollen, dafi etwas passiert,
möglichst ,,vom Baron aufwärts", und das Glotzvieh will starren: Das
sind Widersprüche grundsätzlicher Art. In seinem Hamlet hat Shakespeare
mehrmals der sonstigen Problematik dieser Dichtung Bemerkungen über
Theater und Schauspieler beigegeben, deren Doppelsinn handgreiflich
bleibt. Was zunächst die ,,Formen" anlangt, so erhebt sich gleich eine
neue Problematik, und zwar in der Frage, ob ,,Formen" für alle Zeiten
gelten und gelten müssen, oder aber, ob ,,Formen" ebenfalls dem Wandel
der greifbaren Dinge unterworfen sind, womit sich eine Lehre von den
dichterischen Formen sozusagen selbst unmöglich macht. Wir wollen
annehmen, die Lebensdauer von ,,Formen" sei grundsätzlich sehr groß,
und jedenfalls solcher Art dauerhaft, da6 sich die ,,Formen" erst
Generationen später wandeln, als die Menschen lebten, welchen die
Formen einst Genüge taten.
Mit viel Laune läßt (Ü, 2) Shakespeare aufzahlen,
was es so da alles etwa gäbe: ,,Tragödie, Komodie, Historie, Pastorale,
Pastoralkomödie, Historiko-Pastorale, Tragiko-Historie,
Tragiko-Komiko-Historiko-Pastorale, für geschlossene Handlung und für
Szenenwechsel ..." So spöttisch diese Titel herrollen, so ernst ist der
Hintergrund dabei: denn allein der Streit um die geschlossene Handlung
oder den Szenenwechsel, kurz gesagt, der Streit um ,,die Einheit des
Orts, der Zeit und der Handlung" (siehe später) ist noch nie fertig
gedacht worden.
Shakespeare aber geht weiter . . . er plädiert über
den damals verachteten, jedenfalls nicht gesellschaftsfähigen Stand der
Schauspieler(innen) . . . und nennt die Schauspieler den ,,Auszug und
die abgekürzte Chronik des Zeitalters"; damit soil gesagt sein, daß der
Rollenträger mehr sei, als ein bloßes Vehikel für die Willkür des
dichterischen Personenschöpfers und seiner Griffe und Mißgriffe. Dann
aber kommt (ÜI, 2) die mit Recht berühmte Lehrstunde, welche Hamlet den
Schauspielern über das Wesen und die Praxis ihrer ,,Kunst" und deren
Formen gibt, . . . eine Lehrstunde, die nicht nur Goethe zu seinen
beiden Werken ,,Wilhelm Meisters theatralische Sendung" und ,,Wilhelm
Meisters Lehrjahre" bestimmte, sondern tausendfach nachgelehrt und
immer wieder eingeschärft worden ist: „. . . denn alles, was
übertrieben wird, ist dem Vorhaben des Schauspieles entgegen, dessen
Zweck sowohl anfangs als jetzt war und ist, der Natur gleichsam einen
Spiegel vorzuhalten: der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr
eigenes Bild und dem Zeitalter der Mitwelt den Abdruck seiner Gestalt
zu zeigen . . .", um nur e i n e n Satz zu zitieren, aus welchem man
sehen möge, w i e ernst all diese Dinge sind, zerstört man sich diesen
sittlichen Ernst nicht durch das Geldgeschäft des Kaufmanns, der mit
Theaterabenden handelt, anstatt mit Heringen oder Seife.
Der Dialog zwischen Menschen ist und bleibt keine
nebensächliche Sache, jedoch darf Literaturwissenschaft und
Bühnenbetrieb nicht leichtfertig den Leuten einreden, es handele sich
um viel banalere Dinge. Denn Bühne ist kein Kino, und alle Technik hat
weder ,,Geist", noch vermag sie auch nur ein Bild- und Bühnenwerk aus i
h r heraus zu schaffen.
Die Aufzählung des Polonius stammt aus der Zeit vor
1600; heute könnte man sie beliebig erweitern, z. B. mit den
Moralitäten aller Art, mit dem Polizei- und Krimmalstück, ganz zu
schweigen von allen Versuchen einer sog. Stilbühne mit und ohne
Illusionen.
Die Gestaltungen der Bühnenmöglichkeit verändern
sich rasch und unwiderruflich, auch wenn man dann und wann versucht,
antike Stücke auf Resten antiker Theater zu bringen. Die Zauberbühne
schlüpft gern ins Filmatelier, aber auch ohne dieses wirkt Dichtung von
Zauberei, d. h. von der Aufhebung vordergründlicher bürgerlicher
Vorurteile lockend. Und dann ,,Festspiele", . . . mit dem Bühnenhaus in
Bayreuth begann diese Mode, die heute alle Sommer erneut kommt:
Eitelkeit und Gelderwerb, von ,,Fest" gar kein Gedanke! Zirkus, Posse,
Ausstattungsstück . . . kurzum der wildgewordene Bühnenbildner und
Regisseur an Stelle des Dichters und des Denkers und des echten
Künstlers.
Sollen Tiere auf der Bühne mitwirken? Als in dem
Weimar Goethes ,,Der Hund des Aubry" aufgeführt werden sollte, ein
Stück, darin ein dressierter Hund die Geschicke leitet, stellte Goethe
als Intendant die Kabinettsfrage an seinen ,,herzoglichen Freund", und
trat von seinem Posten zurück; dafür trat dann der Hund vor dem Herzog
auf. In Richard Wagners Bühnenwerken wirken alle möglichen Tiere mit,
teils singend wie das Waldvöglein, teils brummend, . . man denke an
Fafner als Drachen, an den Schwan, an die Kröte im Rhein-gold, an die
Walkürenpferde usw. Die mafi- und formlose Oper Puccinis ,,la fanciulla
del West", einen Reißer allerschlimmster Art, sah man in d e m Theater,
woselbst in Genua Nietzsche erstmals Bizets Carmen gehört hatte, mit 8
(in Buchstaben a c h t) Pferden, welche mehrmals, durch Pistolenschüsse
beflügelt, über die Bretter klapperten, ein infernalisches Getose, das
dem Publikum brüllendes Entzücken entlockte, — und es passierte
ebensowenig etwas, wie beim ,,Hund des Aubry"; auch Verdis ,,Aida" kann
man mit echten Elefanten im Festzug sehen, und im ,,weißen Rößl" tritt
sogar ein Dampfschiff auf, kaum anders als im ,,Fliegenden Holländer"
gleich zwei Segler, ein wirklicher und ein Gespensterschiff. Das alles
gibt es, und noch viel mehr, um nur an die Festaufführung von Webers
,,Oberon" zu erinnern, die Kaiser Wilhelm Ü. zum Entzücken der
Deutschen einst in Wiesbaden inszenierte.
Reizvoller, als dies, bleiben die
,,Konversationsstücke", in denen tatsächlich ,,der Dialog zwischen
Menschen" die künstlerische Hauptsache ist und bleibt, am treffendsten
in Scribes ,,Das Glas Wasser", oft bei Scribes geistigem Schüler, bei
Ibsen, immer bei Oscar Wilde und bisweilen auch bei Shaw.
,,Konversation" dichterisch zur Aufführung zu schreiben, ist unsäglich
schwer, wie es Hofmannsthal in seinem ,,Der Schwierige" bald merken
sollte.
Formen fordern Sparsamkeit! Dann leuchten sie wie
Hebbels ,,Gyges und sein Ring" oder Ibsens ,,Klein Eyolf" beweisen. Das
sog. Kammerspiel ent-zückt immer und braucht durchaus nicht sich
,,raffiniert" gebärden, wie die virtuose Geschicklichkeit von Ludwig
Thomas ,,I. Klasse" zeigt.
Dann aber kommt die andere Welt, die Bühne für die
Oper, die Operette, das Melodrama mit Chören (Méhul: Josef und seine
Brüder), das Oratorium samt der Kantate (Beispiel für eine herrliche
Kantate mitten in einer Oper drinnen bietet Puccinis Tosca), bis es
wieder still und leise wird, wie in Maeterlinks schwierigen
Traumdichtungen, wo das Übersinnliche ins Theater hineinreicht.
Nun gibt es zwei Machte, welche es sich angelegen
sein lassen, die Formen der Dichter dem baren Konsum der Theaterfreunde
zuzuleiten, eine technische und eine persönliche Macht: die technische
Macht ist das Kino, welches sich aus cinema, Kientopp usw. durch
Sturmwind und Abschaum zum technischen Wunderflimmer und zur
,,Traumfabrik" emporgeläutert hat und im Laufe der Jahrzehnte nunmehr
dort angekommen ist, da6 es nichts mehr zum Verfilmen gibt, keinen
Roman mehr und keine andere Möglichkeit. Das Kino hat sich Massen
erobert; mit dem Dialog zwischen Menschen hat es trotz der
Lautsprechmöglichkeit nichts zu tun, sondern nur mit der Sensation; auf
eine bestimmte Zeitdauer muß eine beliebige Handlung, die an Direktheit
nicht zu überbieten sein darf, herhalten, Theater zu ersetzen, mit mehr
oder weniger Umständen, die dabei äußerlich gemacht werden, um den
Schein und gute Sitte vorzutauschen. Das Kino soll zerstreuen, was das
Theater durchaus nicht will. Das Kino soll ausstreuen, das Theater will
sammeln, — und das Kino ist eine einmalig kostende
Reproduktionsmöglichkeit, welche fixiert ist und es bleibt. Die
Individualität eines (selbst mittelmäßigen) Theaterabends ist längst zu
kostspielig und zu zeitraubend geworden, und das Kino bringt Geld ein,
kann also für Reklame etwas ausgeben, . . . die Buhne jedoch bleibt
immer mehr oder weniger ein Zuschußbetrieb; denn dort tritt das
Ensemble der Mitwirkenden jedesmal von neuem auf, Abend für Abend, ein
Risiko in sich, denn die künstlerische Leistung des Menschen als
Darsteller kann nicht errechnet werden; folglich fordert das Theater
eine gewisse Kennerschaft von seinen Besuchern, und mit der
Kennerschaft steht es bei zunehmender Schrumpfung alles Bühnenmäßigen
schmal bestellt; die Phantasie des Menschen braucht vor dem Film
überhaupt nicht tätig zu werden, beim Bühnenabend muß sie sogar
arbeiten, . . . und selbst dazu sind die Massen zu ermüdet.
Die persönliche Macht aber ist der Bühnenbildner;
dieser streicht ein fünfaktiges Lustspiel Shakespeares auf 14 Szenen
zusammen, die nur zwei Stunden dauern, er ist, wie der Procrustes der
griechischen Sage, dieser zerrte das zu Kürze, bis es langte, und was
zu lang schien, schnitt er weg. Die Konzeption des Dichters ist
erledigt, ,,erlaubt ist, was gefallt", meint der Regisseur, der seinen
Goethe ja k e n n t, und so werden Klassiker und Zeitgenossen frisiert,
dafi es nur eine Art hat; da geht es rasant zu, denn die Schauspieler
haben dabei keinen Text mehr, den sie lernen, sondern der Regisseur
paukt ihnen sein Oeuvre ein, das sie möglichst bald vergessen müssen,
wenn ein anderer Regisseur kommt, mit anderen Einfallen und anderen
Verwandlungen. Das Publikum hort keinen Dichtertext mehr, sondern nur
noch die Nachklange daraus, auf die es ja nicht ankommt; so werden in
Auswahl Dichter gespielt, auch Klassiker, und Zeitgenossen brauchen nur
durch die Presse bekannt gemacht worden zu sein, um M o d e zu sein,
Kafkas Romane als Schauspiel oder Oper, Sartres schmutzige und saubere
Hände ganz nach Belieben, . . . und wenn bei solchen Stücken D e n k
überschuß herrscht, . . . h i e r darf das dann sein, je
unübersichtlicher, um so besser: das T i e f e dabei ist erwünscht,
Sophokles, Racine, Grillparzer schneidert man dafür um so knapper nach
dem Ziel: bloß keine Grübelei.
Selbstverständlich darf diese Wandlung der Formen
nicht mit jenen ,,Strichen" verwechselt werden, welche zu allen Zeiten
der Bühnentechniker dem Dichter abrang, weil der Mann der Bretter
deutlicher in den Nerven hat, wo man weg-lassen muß, auch wenn es
,,schön" wäre . . . das nicht; es ist der Dialog zwischen Menschen
allzusehr ins Gehäuse der Fernsprechapparatur gerutscht. Das Kunstwerk
selbst bleibt ja unberührt, es werden aber die Sinne jener getrübt,
welche sich am Kunstwerk freuen sollten und es durch diese
Verpfefferungen nicht mehr können.
Jetzt aber ist von einer wichtigen Sondergestaltung für sich zu sprechen:
C
Die Bühnenanweisungen des Dichters
Mittels der Bühnenanweisung, die dem Text der
Dichtung zugehört, will der Dichter Hinweise für die Aufführung geben
und Erlauterungen, welcher Art er dies und das seiner Dichtung
aufgefaCt wissen mochte. Es werden mittels der Bühnenanweisung zwei
völlig verschiedene Ergebnisse angestrebt, ein buhnentechnischer und
kommentierender.
Dem Schauspieler soll Weisung zuteil werden, was er
unterstreichen und was er gelinde spielen möge, — je komplizierter und
mehrgesichtiger ein Bühnencharakter ist, um so wohltuender empfindet es
der nachbildende Künstler, den Intentionen des Dichters nahe zu sein;
es sei bei Hinweisen über sein Auftreten direkt, sei es in Bemerkungen,
daraus indirekt sich das Seelenleben jener Rolle erhellt.
Die Bühnenanweisung ist neueren Datums, in der
Antike kennt man das nicht, weil die festgelegte Zahl der Schauspieler,
die Regel des Auftretens der Chöre und die starren Masken, welche die
Darsteller trugen, das Statuarische jener Aufführungen formte, . . .
und wo das alles fehlte, in der Komödie nämlich, galt Laune und
bisweilen tolldreister Geschmack als selbstführend. Jedoch schon das
spanische Theater und Shakespeare sind ohne Bühnenanweisungen
doppelsinnig, nicht jeder Darsteller ist souverän genug, zu tun, was i
h m gut dünkt, und Willkür der Schauspieler beendet das künstlerische
Eigenleben des Ensembles und seiner Mitglieder. Shakespeare weist sehr
deutlich an, Bühne auf der Bühne, Geister, Verzögerungen, Klimatisches,
Blindsein usw. Die Seelenkunde des 18. Jahrhunderts differenziert
bedeutend, man hat Racine verstanden, Lessing ist, kein Wunder, auch
bei den Bühnenanweisungen, mit denen er karg bleibt, der Meister.
Jedoch die Geniebewegung des sog. Sturms und Drangs! Da überkreuzen
sich Temperament und Novellistisches derart, dafi die Bühnenanweisungen
bisweilen beinahe mitgesprochen werden konnten. Und warum? Das viele
Leben, welches hier auf die Bretter soil, von der Kindsmörderin her bis
zu Grabbe bin . . . dieses viele Leben drangt, ein Drang, den die Bühne
nicht zeigen kann, wenn sie nicht genau dazu angewiesen worden ist:
daher die immer umfangreicheren Bühnenanweisungen . . . bei Lenz, bei
Klinger, bei dem jungen Schiller sowohl wie beim späteren. Vollends zum
Kommentar wird die Bühnenanweisung bei Heinrich von Kleist,
insbesondere in dessen ,,Prinz von Homburg": würde man Wort für Wort
diese Bühnenanweisungen beachten, man wäre niemals auf die bisweilen
irreführenden Vermutungen hinsichtlich des Somnambulismus des Prinzen
und der Folgen daraus gekommen; denn die zahllosen Bühnenanweisungen
Kleists lassen von Sekunde zu Sekunde des ganzen Bühnenabends
deutlichst erkennen, wann Homburg träumt und wann er das nicht tut, —
die Umgebung merkt das auf der Bühne eben nicht, dafür aber muß es der
Zuschauer wissen, um zu ermessen, wann Homburg, auch im
kriegsrechtlichen Sinne, verantwortlich ist und wann nicht, und wie oft
ganz und gar nicht, und falls ja, an vollig anderem Platze und
Zusammenhang.
Deutlich sieht man gerade in diesem Text, wie stark
der ,,Prinz von Homburg" Novelle im Sinne Kleists, geblieben ist,
dramatisierte Novelle, die gar zu leicht vom jeweils Wesentlichen und
juristisch wie künstlerisch Entscheidenden abstrahiert oder irreführt.
Ibsen stellt mit der ihm eigenen Sicherheit die
Bühnenanweisung wieder an ihren richtigen Platz, ihr leises Mitdenken
gleicht der Arbeit der Souffleuse, die immer mitspricht, die aber nur
der jeweilige Darsteller hört, das Publikum aber auf keinen Fall.
Bei manchem Dichter sieht man die Unsicherheit, mit
welcher er Dinge in die Anweisungen bringt, die in den Sprechtext
gehören und umgekehrt, wie man es bei Wedekind und ganz besonders oft
bei Gerhart Hauptmann beobachten kann.
Die Bühnenanweisung gehört mit zum Dialog zwischen
Menschen hinzu; denn dieser Dialog vollzieht sich nicht nur in der
Zeit, Raum und Handlung, sondern auch in der Causalität, in der
wechselseitigen Ursächlichlkeit. Darum muß nun, nach all diesen
einleitenden Feststellungen, der heikelste Dialog dargestellt werden,
jener der Gründe und Gegengründe für und wider die Schaubühne und das
Theater uberhaupt, im Besonderen und ganz im All-gemeinen. — —
Verantwortlich für den Inhalt ist der Autor der Homepage. Kontakt
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